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Der „Tag der Pflege“, wie jedes Jahr am 12. Mai, ist dieses Jahr gar nicht groß aufgefallen; wir haben ja zur Zeit fast jeden Tag „Tag der Pflege“. Fast täglich werden Ideen diskutiert, wie man unsere Arbeitsbedingungen verbessern könnte: Kürzere Schichten, höhere Gehälter, allgemein mehr Wertschätzung; grandios, das alles. Eine Idee ist allerdings noch nie erwähnt worden, obwohl sie ganz nahe liegt, wie ich finde. Zudem ist sie ganz leicht umzusetzen, wir brauchen kein neues Gesetz dafür, sie muss nicht durch den Bundesrat, jeder kann sofort damit beginnen und sie ist auch ganz gratis: Es würde die Situation in den Kliniken, auf den Intensivstationen, definitiv und spürbar entschärfen, wenn wir uns alle miteinander – einfach nur mal ein bisschen besser benehmen würden. Wenn wir uns ein kleines bisschen liebevoller, ein bisschen zärtlicher geben, und nicht nur denjenigen gegenüber, die wir lieben, sondern auch, und da wird es tatsächlich doch ein bisschen schwieriger: auch denjenigen gegenüber, die wir nicht lieben. Ich weiss, das ist leicht gesagt und nicht so leicht getan. Ich bin auch kein Heiliger; ich verspüre auch ab und zu das Bedürfnis, jemanden zu töten. Oder ihn zumindest sehr doll zu hauen; wenn er mir grad den Parkplatz weggeschnappt hat beispielsweise. Aber dann lasse ich es bleiben. Und schon haben wir wieder ein Intensivbett eingespart. Gute Idee, oder? Also: Nachmachen, bitte.
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„Weitere 18.000 Stellen in der Pflege neu besetzt“, lese ich beim Morgenkaffee und frage mich reflexartig: Schön, aber mit was? Mit Krankenschwestern: Das wäre ein Traum. Erfahrungsgemäß aber ein Wunschtraum. Erinnerungen an früher werden wach; ein Chefarzt damals, der fast wöchentlich von unseren „gerade neu“ besetzen Stellen schwärmte: Eine schizophrene Kollegin war dabei, aber nicht sehr lange, und wir mussten die beiden entlassen. Zwei Epileptikerinnen kamen nach, dann ein Alkoholiker, der sich aber an die drei tollen Tage bei uns nicht mehr erinnern wird. Und dann noch eine junge Dame aus dem Baltikum. Sie hielt uns ein Zeugnis in Kyrillisch unter die Nase; wir waren begeistert, wir konnten kein Wort verstehen, aber es sah einfach schick aus mit Stempel und solchen Sachen: Also völlig ausreichend für eine Anstellung auf der ITS in unserem schönen Land, wo du für die Bedienung eines elektrischen Hoftores allerdings einen Studiennachweis vorlegen musst. Läuft doch. Wenn man will. Und wenn sich alle Mühe geben.
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Wie schnell man sich an schlechte Nachrichten gewöhnt; die steigenden Inzidenzen nahm ich im Frühsommer schon mit parallel steigender Gleichmut hin. Und es dauerte eine ganze Zeit, bis mich eine Schlagzeile doch wieder wirklich und tief erschütterte: Jan Josef Liefers will eine Schicht auf der Intensivstation „übernehmen“. Wir arbeiten tatsächlich hart daran, jedes uns anvertraute Leben zu erhalten; und wer bitteschön soll jetzt auf Herrn Liefers aufpassen? Das war von ihm wohl als eine Art Läuterungsakt gedacht, nach seinem, gelinde gesagt, misslungen Versuch, der Corona-Politik „satirisch“ beizukommen. Dann wolle er jetzt mal eben eine Schicht „übernehmen“, liess er verlauten, und dann wäre doch alles wieder gut. Jau, ging mir durch den Kopf: Dann übernehme ich so lange mal eben eine Hauptrolle im „Tatort“. Schauspieler ist ja auch nur ein Ausbildungsberuf; und einen Satz, den mir einer aufgeschrieben hat, einigermaßen frakturfrei in eine Kamera zu sprechen: Das werde ich ja wohl noch hin kriegen. Und wenn mir doch ein Fehler unterläuft, wiederholen wir einfach die Einstellung. Oder man drückt halt ein Auge zu, und lässt die Szene im Kasten. Aber da haben wir dann doch einen Unterschied: Wenn Hilfspfleger Jan Josef bei uns ein Fehler unterläuft, kann die Einstellung nicht einfach wiederholt werden; „gestorben“ heisst es dann auch bei uns. Und dann wird es sicher nicht reichen, wenn wir nur ein Auge zudrücken.
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Randnotiz für alle, die sich hier an meinem mangelhaften Gendern reiben: Es ist nicht mangelhaft; und ich bin sehr dafür. Ich möchte hier nur als Alternative zu Sternchen, Pünktchen oder Binnen-I eine charmantere Lesart etablieren: Das Generische Femininum. Bitte alle mitmachen die nächsten Jahrhunderte. Meinen Dank an alle Leserinnen vorab.
Fabian Lau ist Krankenpfleger auf einer Intensivstation, freier Autor und – auch sehr intensiv – Musiker. Er lebt in Malchen.
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