
Keine grosse Kunst: Kunst machen
Dieselbe junge Dame, die vor einigen Tagen ihrem Mann in Mariupol Lebewohl sagte, sich mit ihren beiden kleine Buben auf den Weg hierher machte und jetzt vor der Tafel nach etwas Gemüse ansteht, hatte ein paar Monate zuvor noch dieselben Probleme wie wir: grossenteils lächerliche. Von ihrem jetzigen, ja, Fluchtpunkt aus jedenfalls wird es sie den Kopf schütteln lassen, was sie letzten Sommer vielleicht noch nervös machte: Die Katze hatte irgendwas am Auge und die Tierarztrechnungen häuften sich, etwas in der Art; ach, und der Lieblingsnagellack war auch wieder teurer geworden und die Maske nervte sowieso schon lange.
Verlassen wir nun unseren Fluchtpunkt – im Gegensatz zu Sonnenblumenöl und Weizenmehl gibt es Empathie derzeit ja gratis überall und auch in nicht handelsüblichen Mengen abzugeben – stellen wir uns also einmal vor: In ein paar Monaten sind wir es also, die schon einige Tage mit unseren Kleinen in einer Tiefgarage zugebracht haben; jetzt trauen wir uns kurz nach oben und finden eine wochenalte Zeitung, beispielsweise die von heute: Die Kreuzung Teichhaus – Ecke Soderstrasse ist doch noch ein bisschen sicherer geworden; jemand hat sich nochmal wirklich gründlich Gedanken gemacht über die Situation dort, ein Aufatmen jetzt. Und was sonst noch so, um uns herum?
Wir freuen uns über das Wetter, Autofahrer hupen, eine Ministerin tritt zurück. Im Fernsehen haut ein Quizmaster seine Pappkärtchen zwei-, dreimal hart auf das Moderatorentischchen, irgendwas streitet im Nachbarhaus. Ein Fussballer spuckt aufs Grün, der Schiedsrichter hebt die Schultern. Es wird gekocht, der Spargel ist teurer geworden, jemand hat ein Auto gewonnen und die Künstler haben das nächste Problem. Gerade durften sie wieder hinaus, raus auf die Bühne, endlich wieder: Der Eröffnungsstandard, in den Begrüssungsapplaus hineingekläfft – endlich wieder vor echten (!) Menschen spielen -, war noch nicht zu Ende gefreut, da stand aber schon die Frage überm Auditorium: Gestern schossen sie in Butscha eine Lehrerin vom Fahrrad, die buntlackierten Nägel an den blutsverdreckten Händen werden zum bizarr kleinen Spiegelbild eines ganzen Landes; und du gehst heute hier auf die Bühne und erzählst Witze?
Die versuchten Rechtfertigungen tendierten in zweierlei Weise: Wir müssen doch mal zwei, drei Stunden lang diesen Wahnsinn, diesen Horror vergessen – die Verdrängungsvariante; oder alternativ: Wir dürfen uns nicht von einem Wahnsinnigen unseren Lebensmut, unsere Lebensfreude nehmen lassen – die Trotzvariante also. Beides vergeblich. Kunst rechtfertigt zu keinem Zeitpunkt ihre Existenz durch sich selbst. Insofern muss sie es auch jetzt nicht und jedenfalls nicht anders tun, als einen Sinn zu haben; und sei es nur durch die Beschäftigung mit einer bemerkbaren Wahrheit. Aber hui, das ist jetzt dann doch schon wieder zu hoch. In solch einem bedeutsamen Satz entlädt sich erfahrungsgemäss nach sieben bis neun Wörtern unser Unwillen zu verstehen in das Swipe-Fingerchen auf dem Display; wir scrollen weiter. Also geh´ halt auf die Bühne.
Die Grafiker durchstöbern ihre Archive: Irgendwas, was sich flugs einfärben liesse in blau und gelb? Irgendein Putin-Portrait, dass sich durch das eingefügte Hitler-Bärtchen ohne Anstrengung zum Statement aufpimpen lässt? Die Liedermacher: Ein Anti-Kriegslied vielleicht, Jahrzehnte alt, dass jetzt „leider doch wieder so schrecklich aktuell“ mit ein paar jazzigen Akkorden aufgewärmt aus der Bedeutungslosigkeit geholt werden kann? Geh halt auf die Bühne.
Erzähl´ deine Witze, jonglier´ deine Keulen, lass´ die Pudel springen und sing´ deine Lieder. Tanz´ unser altbekanntes Tänzchen.
Wir brauchen das. Wir lieben dich.
Fabian Lau ist Krankenpfleger und Künstler. Das eine in Darmstadt, das andere in Malchen; derzeit nur am Schreibtisch dort, nicht auf der Bühne.
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