
Mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz stelle ich ein Bild von mir in die Welt, das ich mag. Als Echo erhalte ich Werbung für Wanderstiefel, Gitarrensaiten und Potenzmittel; darüber kann ich dann nachdenken. Zum Ausgleich hält da gut die Natürliche Intelligenz als Gegenüber her; im Gespräch spiegelst du dich selbst. Jeden Satz, den du sprichst, sprichst du auch zu dir selbst, und im besten Fall hörst dir dabei genauer zu als jeder andere. Nur sind mit meiner zweifachen Berufswahl freie Musetage eine rare Rarität.
Im Klinikbetrieb laufen Sonn- und Feiertage bekanntlich durch; nur die sogenannten patientenfernen Berufsgruppen, also Haustechniker etwa oder Chefärzte, können sich für die Tage mal etwas raushalten. Und der Künstler tritt auch gern ab freitags ins Rampenlicht. Weshalb es mir meist eher unverhofft passiert, dass ich mich mal in beschäftigungsfreier Atmosphäre und bei einer Tasse Tee vielleicht in einem Gespräch wiederfinden kann. Und das habe ich ja am allerliebsten mit einer eloquenten Frau, wenn ich es mir schon aussuchen darf. Aber jetzt fällt mir auf: Sie nennt mich Schatz; verwendet alternativ auch das Diminutiv eines possierlichen Nagetieres. Da tut sie schon seit jeher, aber hatte sie inzwischen meinen richtigen Namen vielleicht vergessen? In einem Alter, in dem andere beginnen, ernsthaft über eine Demenz nachzudenken, ein berechtigter Verdacht. Ich will ihr eine Fangfrage stellen, muss nur den richtigen Moment abpassen, dass sie nicht rasch nach dem Handy greift, um mich heimlich zu googlen: „Wie wärs mal wieder mit einem gemeinsamen Abend im Theater?“ gebe ich vor. „Sie spielen doch gerade dieses Stück von Kästner, das er nach mir benannt hat …“ – „Stimmt“, pflichtet sie mir bei. Und greift rasch nach dem Handy: „Stimmt, Fabian.“
Merkwürdig, mit welchen Tricks und Finten unser Hirn davon ablenkt, dass jetzt das Maß doch mal langsam voll ist, vielleicht. Angeblich nutzen wir nur zehn Prozent, und das wäre mir lieb. Noch 10.000 Songs dazu zum Beispiel, Texte und Zitate mehr im Hinterkopf? Die sich ungehalten aufdrängen beim kleinsten Anreiz? Meine Frau lässt ein Glas fallen und ich zitiere aus dem „Zerbrochenen Krug“. Der Lieblingsgast schüttelt den Kopf wegen meiner Carbonara und ich werde zum Sinatra: … I did it my way. Brecht beim Gläserabwaschen, Kreisler auf dem Weg in die Oper, und immer wieder Cole Porter auf der Heimfahrt: Und das jetzt alles noch mal Zehn? Manche reagieren darauf mit einem epileptischen Anfall hin und wieder; und ich finde, sie haben Recht. Und jetzt fällt mir auch noch Erich Fried ein, herrje, auch der jetzt noch, irgendwoher taucht er auf aus der Tiefe meines Hippocampus´. Denn schon über vierzig Jahre lang grüble ich immer wieder, finde es merkwürdig, dass er über das Wort „eigenartig“ schrieb, und aber nicht im gleichen Duktus auch über das Wort, ja, „merkwürdig“.
Merkwürdig, wie das Wort „merkwürdig“ es fast als befremdlich hinstellt, dass man sich etwas zu merken als würdig empfindet. Ich gehe durch die Stadt: fast jede Strasse eine Seite meiner Biographie. Die erste Wohnung und der Jazzclub, die Liebe und die Wochenenddienste im Klinikum, Strassenmusik und die Krone und das Staatstheater, ein Vortrag im Liebighaus, Blaulichtfahrten in der Nacht, Sessions im Herrengarten, Streit auf dem Pali-Parkplatz und überall diese Leute, Hunderte von Menschen, in jedem zweiten Fenster kenne ich oder kannte ich wen. Aber wenn ich dich vorgestern getroffen habe, habe ich heute vielleicht schon deinen Namen vergessen; warum? Vielleicht, mein lieber Freund: Vielleicht warst du mir nicht merkwürdig genug.
Fabian Lau ist freier Autor, Krankenpfleger und Musiker. Er lebt, soweit ich mich erinnern kann, in Malchen.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar