
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Für Mode interessierte er sich nicht, aber für die Menschen. Deshalb konnte er auch Mannequins so ganz anders fotografieren, mit dem Blick auf ihre Persönlichkeiten. Für ihn war Schönheit nebensächlich, Perfektion gar langweilig. Die Modelle von Peter Lindbergh haben Sommersprossen, Narben, Muttermale – und die Älteren unter ihnen verbergen noch nicht einmal ihre Falten. Aber auf ihre Art sind sie schön, sie wirken natürlich und benötigen keine Schminke.
Mit seinem rauen Stil hat Peter Lindbergh die Modefotografie in den 1980er- und 1990er-Jahren revolutioniert. „Er hat die Mode und die Fotografie menschlich gemacht“, meint die Stylistin Julia von Boehm. Einen Einblick in sein Schaffen ermöglicht jetzt das Hessische Landesmuseum Darmstadt, aber nur für wenige Wochen. Die Schau war schon im Dezember aufgebaut, musste wegen des Lockdowns lange auf Besucher warten – und jetzt drängelt die letzte Station in Neapel.
Ohnehin stand „Untold Stories“, so der Titel der Ausstellung, unter keinem glücklichen Stern. Felix Krämer, Direktor des Düsseldorfer Kunstpalastes, hatte Lindbergh gefragt, ob er eine Schau über seine Werke selbst kuratieren wolle. Im September 2019 schien der 74-Jährige sehr zufrieden mit der Auswahl aus seinem gigantischen Bilderberg – und starb kurz darauf. So wurde die Ausstellung, die wenige Monate später in Düsseldorf startete, zu seinem Vermächtnis.
Auch in Darmstadt trumpft die Schau im ersten Saal mit 24 Bildern auf, die auf Fototapeten groß aufgeblasen wurden, eng neben- und übereinander gereiht – fast ein Weiheraum. Aber der ermöglicht einen guten Eindruck von Lindberghs Spiel mit Motiven aus der Foto-, Film- und Kunstgeschichte. Oft hat er viele Bild-Ikonen recht keck variiert. Die drei Models auf dem betagten Dampfer beispielsweise erinnern an berühmte Szenen aus Stummfilmen, sie blicken streng drein, ohne jedes Lächeln. Der kühle, aber doch faszinierende Eindruck rührt vor allem von den starken Kontrasten und groben Körnungen der Schwarz-Weiß- Fotos her. Unter den 129 Bildern aus der Zeit von 1984 bis 2018 sind nur vier Farbfotos, berichtet Kuratorin Mechthild Haas. Etwa das Stillleben mit Hummer, auch eine Anspielung auf ein populäres kunsthistorisches Motiv. Das Foto steckt, wie alle Bilder, in einem braunen Holzrahmen, der stark gemasert ist, mal regelmäßig gereiht, mal wild wuchernd.
Und dann das verspiegelte Glas, das Lindbergh gezielt für seine Fotos gewählt hat. So steht der Betrachter vor einer Serie von fünf Porträts, die Naomi Campbell immer wieder anders charakterisieren. Aber, verflixt noch mal, das eigene Gesicht spiegelt sich unentwegt in den Porträts der Campbell. Unbewusst ändert man ständig seinen Blickwinkel, schaut von links oder rechts – und genau das wollte Lindbergh erreichen: sich Zeit zu lassen und auf einen Menschen einzulassen.
In der Schau sind sogar viele unbekannte oder überraschende Motive zu entdecken, vor allem Landschaften und Stillleben, natürlich auch Porträts. Manche Bildnisse hat Lindbergh für die Schau zu Gruppen arrangiert, zuoberst das Model Karen Elson mit merkwürdig verknotetem Körper, danach eine alte nackte Frau, gefolgt von einer jungen Frau mit Kind. Das Leben hat den im Kohlenpott Duisburg aufgewachsenen Fotografen doch viel stärker interessiert, als man auf den ersten Blick meint.
Auch der Tod hat ihn beschäftigt, wie im dritten Saal deutlich wird. Das Gesicht eines älteren Mannes ist in Nahaufnahme gleich ein Dutzend Mal zu sehen, bis man vor einem Video steht, das diesen Mann 30 Minuten lang in Nahaufnahme zeigt. Mal schaut er trotzig, mal lächelt er, mal wirkt er skeptisch, dann fast bösartig. Elmer Carroll wurde 1990 in Florida wegen Mord und Vergewaltigung zum Tode verurteilt. Zwei Monate vor der Hinrichtung 2013 hat Peter Lindbergh ihn als Stellvertreter für alle Mörder gefilmt – ein verstörender Film. Lindbergh hat Menschen geliebt, er hat Models und einen Mörder porträtiert.
Christian Huther
Bis 18. April 2021
Katalog 60,- Euro
Ein Ticket muss vorab telefonisch (06151 16 57 000) oder online mit Zeitfenster gebucht werden.
Internet: www.hlmd.de

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