
Namen, die in Darmstadt noch jeder kennt (5)
Der Kultur-Journalist W. Christian Schmitt, der mehr als 25 Jahre in Darmstadt lebte und einst in Georg Hensels Feuilleton-Redaktion im Darmstädter Echo arbeiten durfte, hat seine Autobiografie vorgelegt, die unter dem Titel „Willkommen in der Aula meiner Erinnerungen. 50 Jahre unterwegs als Kultur-, Literatur- und Buchmarkt-Journalist“ erschienen ist (siehe auch unsere Oktober-Ausgabe). In den „Darmstädter Kultur Nachrichten“ veröffentlichen wir daraus in einer Serie jene darin enthaltenen Porträts mit Darmstadt-Bezug. Diesmal Gert Heidenreich, Karin Held und Georg Hensel.
Gert Heidenreich (Jg. 1944) zählte zu jenen Autoren, mit denen ein über viele Jahre andauernder Kontakt bestand. Des Öfteren trafen wir uns – zu Interviews, bei einer von der VHS in Darmstadt veranstalteten Talkrunde „Gesprächsbereit. Plaudereien über Kultur(impulse) in und aus Darmstadt“ (1991/1992), bei Veranstaltungsreihen wie „Zu Gast in Reichelsheim“ oder „Dichterlesungen in der Kreisstadt“ sowie bei PEN- oder VS-Tagungen. Und jedes Mal hatte er Einschätzungen zum Literaturmarkt parat, die Leser wie Zuhörer zu schätzen wussten. Aus einer dieser Begegnungen einige Passagen, abgedruckt am 4. September 2000 in der Passauer Neuen Presse:
Die einen wissen um ihn noch aus der Zeit, da er (von 1990 bis 1995) dem westdeutschen PEN als damals jüngster Präsident vorstand. Andere schätzten ihn als Buchautor, als Geschichtenerzähler, Romancier, auch als Dramatiker. Die Allermeisten allerdings „kennen“ ihn, genauer: seine markante Stimme aus zahllosen TV-Dokumentarserien (wie u.a. Terra X), in denen er – ohne sichtbar zu sein – als der alles erklärende Sprecher auftrat. In Darmstadt wuchs er auf, in München studierte er und ist auch heute noch im Bayrischen zuhause:
Herr Heidenreich, es gibt ein beängstigendes Phänomen auf dem Buchmarkt: die zunehmende Amerikanisierung des Angebots. Was passiert da eigentlich?
Gert Heidenreich: Es ist tatsächlich so, dass die deutschen Verlage zunehmend ihr Geld mit ausländischer Literatur machen. Das hat u.a. zur Folge, dass sie natürlich auch ihr Publikum seit Jahren dazu erziehen: Wenn auf einem Buch ein amerikanischer Autorenname steht, dann muss es wohl interessanter sein, als das Buch eines deutschen Autors. Ein Teil dieser Entwicklung ist allerdings hausgemacht von den Autorinnen und Autoren unseres Landes. Wir haben lange Zeit etwas ganz Wesentliches aus dem Blick verloren: man muss natürlich etwas zu erzählen haben, bevor man schreibt. Das ändert sich. Jüngere deutsche Autorinnen und Autoren wissen durchaus, dass man einen faszinierenden Plot braucht, um Leser zu gewinnen. Zu Ihrem Stichwort „Amerikanisierung“ fällt mir noch etwas auf. Das ist die geradezu brutale Beschleunigung des Marktes. Wir haben im Moment den Zustand, dass ein Roman, an dem man drei, vier Jahre gearbeitet hat, in sechs Monaten verkauft werden muss. Ein Buch, das sich in dieser Zeit am Markt nicht behauptet, hat keine Chance mehr, verschwindet aus den Regalen, aus den Lagern, aus dem Bewusstsein.
Welche Rolle spielt künftighin das Internet für Autoren?
Heidenreich: Ich bin ganz und gar nicht technikfeindlich und benutze die neuen Medien auch sehr intensiv, aber mit dem Internet ist es eine zweischneidige Sache. Man kann einen Text nahezu kostenlos ewig drinstehen lassen. Das erzeugt den Anschein der Dauerhaftigkeit. Andererseits ist das Internet ein Beschleunigungsmedium. Die Angebote kommen und verschwinden in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Doch Literatur hat natürlich ihre eigenen, überwiegend langsamen Mechanismen. Ich halte wenig davon, Bücher ins Internet zu stellen, die man dann auf dem Monitor lesen kann.
Wird sich das „Berufsbild“ des Schriftstellers andern (müssen)?
Heidenreich: Die Literatur selber, das Erzählen wird sich nicht ändern. Das, was sich gewaltig ändern wird und was unsere gesamten literarischen Mechanismen durcheinander bringen und/oder radikal verändern wird, ist nicht das Internet, sondern die neue Technik „Books on demand“, also quasi das ausgedruckte Buch auf Bestellung. Keine große Lagerhaltung mehr für Verlage und Buchhandel. Das wiederum bringt natürlich auch viele neue Freiheiten für Autoren.
Rückblickend auch dies: Als Gert Heidenreich zum PEN-Präsidenten gewählt worden war, hatten wir Anfang 1994 die Gelegenheit zu einem Interview:
Herr Heidenreich: am Ende des Super-Wahljahres könnte – zumindest befürchten mache solches – diese Republik möglicherweise eine ganz andere sein. Was kann, was muss der PEN in einer solchen Phase unternehmen?
Heidenreich: Was sich ankündigt, ist meiner Meinung nach nicht eine wirkliche Gefährdung der demokratischen Grundstruktur unseres Landes durch Rechtsextremisten und rechtsextremistische Parteien. Bedenklich ist vielmehr jene populistische Vorstellung von Politik, die in die etablierten Parteien eindringt. Es ist mir nicht mehr klar, wie weit der demokratische Grundkonsens noch reicht.
Früher haben die Gewerkschaften eine Art Wahlempfehlung gegeben. Wäre ähnliches auch etwas für den PEN?
Heidenreich: Ich hoffe, dass der PEN einen sehr deutlichen Text genau in dieser Frage publiziert hat. Wobei unser Augenmerk der Sprache gilt. Denn es geht nicht an, dass eine Partei die Frage „Wie viele Ausländer verträgt das Land?“ zum Wahlkampfthema machen will. Der Verrohung des Staates geht immer eine Verrohung der Sprache voraus.
Ein Wahlthema wird sicherlich die bislang nicht völlig realisierte Einheit sein. Genauer: Jene falsche Einschätzung des Zusammenwachsens, die allen voran Helmut Kohl angelastet wird. Aber irren ist ja bekanntlich menschlich. Ich erinnere mich, dass auch Sie, im Dezember 1991 befragt, wie lange es mit der Vereinigung von PEN-West und PEN-Ost noch dauere, geantwortet haben: „Zwei Jahre müssten das Maximum sein“.
Heidenreich: Da habe auch ich mich offensichtlich geirrt. Inzwischen hat sich allerdings im ehemaligen PEN der DDR sehr viel bewegt. Auch zwischen den beiden Zentren. Das Klima ist entspannt. Nur die Frage der organisatorischen Vereinigung hat sich nicht bewegt.
Dieses Vereinigungs-Begehren scheint ein deutsches Phänomen zu sein. Denn eine Vielzahl von Ländern – wie etwa Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Mexiko, Belgien, Kanada, Spanien oder ganz Hongkong – verfügt seit Jahren über zwei unabhängige PEN-Zentren. In der Schweiz und in Australien gibt es gar drei an der Zahl. Warum müssen hierzulande die beiden PEN-Zentren unbedingt vereinigt werden?
Heidenreich: Ich kann mir vorstellen, dass aus der Spannung zweier PEN-Zentren sogar Gutes erwächst. Allerdings gibt es für Deutschland nicht ähnlich gute Argumente wie für die anderen von Ihnen genannten Länder, in denen oft mehrere Sprachen innerhalb eines Landes gesprochen werden. Wir müssen uns also der Frage stellen: Leben wir getrennt aufgrund der getrennten Geschichte? Oder leben wir getrennt, weil wir sagen, es ist interessant, zwei unterschiedliche PEN-Zentren zu haben, die sich gegenseitig in ihren Phantasien und Einstellungen befruchten können?
Karin Held (Jg. 1957) war Pröpstin für den Kirchenbezirk Starkenburg, zu dem 400.000 Mitglieder der Ev. Kirche in Hessen und Nassau zählten. 2004 konnte ich sie für ein eher ungewöhnliches Interview gewinnen, das wir in „WIR. Das Regionalmagazin“ – seiner Länge wegen – in sechs aufeinanderfolgenden Ausgaben veröffentlichten (die kleinen Essays nahekamen). Eine der einfach klingenden Fragen lautete damals:
Frau Held, warum tragen Pfarrer und Pfarrerinnen schwarze Gewänder – ähnlich wie jene Damen und Herren vor weltlichen Gerichten?
Karin Held: Die Amtstracht der evangelischen Pfarrer und Pfarrerinnen ist der schwarze „Talar“. Das lateinische Wort „talus“ steckt darin, auf Deutsch: der Fußknöchel; weil die Länge des Talars bis zum Knöchel reicht. Dieses Gewand ist ursprünglich der Doktormantel der Universitätsgelehrten. Martin Luther sprach sich entschieden gegen die römisch-katholischen Priestergewänder aus, weil sie dem protestantischen Amts- und Kirchenverständnis nicht entsprächen. Der evangelische Pfarrer ist kein geweihter Priester. Er beschäftigt sich in Studium und aktueller Auslegung mit der Heiligen Schrift und hat sie zu lehren; er ist also in der Hauptsache Prediger, und der schlichte schwarze Talar ist eine „Universitätstracht“, ein „Prediger-Rock“. Das Tragen des Talars für protestantische Geistliche wurde im Jahr 1811 durch eine königlich-preußische Verordnung allgemein durchgesetzt. Für mich hat die schwarze Amtstracht einen hohen Traditionswert. Ich kritisiere die auch in unserer Kirche oder in Fernseh-Gottesdiensten um sich greifende Mode, weiße Talare oder eine bunte „Stola“ (Schalkragen über dem Talar) zu tragen. Die verschiedenen Begründungen überzeugen mich nie. Der einheitlich getragene schwarze Talar steht in Deutschland für das Luthertum und für die Erkennbarkeit der protestantischen Geistlichen. Das möchte ich nicht preisgeben….
Georg Hensel (Jg. 1923) nahm die Schere aus der Schublade und schnitt den jeweils ersten Absatz meiner Artikel einfach ab. Dies, so erklärte er mir, müsse so sein, weil ich (üblicherweise) stets den ersten Absatz benötigen würde, um mich „in den Beitrag hineinzuschreiben“. Er war der Feuilleton-Chef des Darmstädter Echos und ich der Volontär. Und Recht hatte er. Aber nicht nur dies lernte ich, als ich in seinem Ressort arbeiten durfte. Auch, welchen Stellenwert Kultur (und deren Verteidigung) in unserer Gesellschaft hat bzw. haben sollte. Hensel war Theaterkritiker mit Leib und Seele. Mit seinem „Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart“ (als Taschenbuch zuletzt aufgelegt bei Econ & List) setzte er Maßstäbe. Auch nach meinem Wechsel zur Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und anschließend zum Wochenmagazin buchreport hielten wir Kontakt. Als er dann gar mit seinem autobiographischen Roman „Glück gehabt“ (Suhrkamp) auf die jeweils montags veröffentlichte Spiegel-Bestsellerliste kam, konnte ich ihn vorab über seine Platzierung informieren. Was ihn gleichermaßen überraschte wie erfreute. Denn die Liste erschien vorab in jenem Dortmunder Branchenmagazin, das diese erstellte und bei dem ich als geschäftsführender Redakteur frühzeitig den entsprechenden Einblick hatte. In seinen Briefen dankte er immer öfter mit dem Zusatz „…wünscht Ihnen von Herzen Ihr alter Georg Hensel“. Zuletzt begegneten wir uns bei einer Lesung im Darmstädter Theater-Foyer sowie auf seiner „Rentnerbank“. Aber ich versäumte es nicht, mit ihm im Januar 1994 ein Interview zu führen, aus dem ich zwei Antworten zitiere:
Mehr als vier Jahrzehnte gehörte er zu den Meinungsmachern dieser Republik. Zumindest, wenn es um das Thema Theater ging. Zunächst als experimentierfreudiger Feuilleton-Chef, dann als Kritiker für Blätter wie Stuttgarter Zeitung, Die Welt, Süddeutsche Zeitung oder Weltwoche, als Kolumnist von „Theater heute“ sowie als Kommentator für Rundfunk- und TV-Anstalten. Und letztlich gar als für die Theaterberichterstattung zuständiger, leitender Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er wohnte auf Darmstadts berühmter Rosenhöhe, war (einige Zeit) Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie Verfasser des gleichermaßen gewichtigen wie (laut Spiegel) „fleißig, gescheit und leicht lesbar geschriebenen“ kurz „Spielplan“ genannten Führers durch die Theaterwelt von der Antike bis zur Gegenwart. Begonnen hatte er 1949 mit dem bei Rowohlt erschienenen Erzählungsband „Nachtfahrt“. Zeit seines Lebens ist er Geschichtenerzähler geblieben, zuletzt mit seinen Erinnerungen „Glück gehabt“.
Herr Hensel, fast ein ganzes Leben lang haben Sie das deutschsprachige Theater kritisch begleitet. Was ist von der Faszination der frühen Jahre geblieben?
Hensel: Nicht mehr sehr viel. Durch die Veränderung des Theaters im Laufe der vier Jahrzehnte – es wurde viel Unsinn produziert – ist meine Lust am Theater geringer geworden. Und seit drei Jahren bin ich im sogenannten Ruhestand.
Es gibt Theaterkritiker, die haben nicht nur geschrieben, wie Theatermacher was alles besser machen könnten, sollten – sie haben sich auch als Bühnenautor, Regisseur oder gar als Intendant versucht. Warum hat Sie solches offensichtlich nie gereizt?
Hensel: Ich habe die Theaterkritik nie als einen Teil des Theaters betrachtet, sondern als Gegenpart. Ich habe mich immer als ein nie gewählter, aber immer vorhandener Vertreter der Zuschauer verstanden. Ich habe gedacht, wenn ich dem Theater überhaupt helfen kann, dann dadurch, dass ich eine wohlformulierte, argumentative Ansicht vortrage, die ich gewonnen habe bei Besichtigung der Aufführung. Das ist, glaube ich, die einzige Hilfe, die der Kritiker dem Theater leisten kann….
siw
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