
Die Punks waren leider schon verscheucht worden. Nur ein paar große, rechteckige Flecken ins Braune hinein verdorrten Grases hatten ihre Zelte hinterlassen auf der kleinen Grünfläche vorm alten Kursaal in Westerland. Ich war mal wieder zu spät dran mit meinem Urlaub im September; auf Sylt verpasst man manches bis zum Herbst. Ich komme doch immer gern mit interessanten Menschen ins Gespräch, vor allem, wenn sie noch etwas jünger sind. Das kann horizonterweiternd wirken und das hat man nötig in meinem Alter, so sehr fast, wie möglichst drei Liter trinken täglich und viel, viel Bewegung und ruhig auch einmal öfter Obst essen; wenn das Weltbild offenbar ganz von alleine zum Relief erstarrt, der eigene Geist immer weniger flexibel wird und gleichzeitig damit auch immer schwerer veränderbar: Der Blickwinkel. Aus ihrem Blickwinkel gehöre ich vielleicht ja dazu, zu den Reichen und Schönen, die die Insel feste in ihrer Hand haben, wie die Presse – selbst der SPIEGEL, oweh … – wieder kolportierte über den Sommer beim Thema 9-Euro-Ticket: Die Reichen und die Schönen. Wenn ich auch hier am Ort nicht aus dem Haus gehe in Klamotten, in denen ich auch zu Hause nicht aus dem Haus gehe, gehöre ich schon zu den besser Gekleideten, wenn ich aus dem Haus gehe. Beim Frühstückschampagner in Kampen sieht man hier und da mal einer an, dass sie zwei Euro mehr ausgegeben hat für den Jogging; aber schön ist das auch nicht zwingend. Ist mal eine schön, oder zumindest so etwas Ähnliches, ist eher bestenfalls zur Zeit der Papi reich; sie wird dann aber irgendwann schön erben, das ist ausgemacht, und dann wird auch der eigene Name auf der schwarzen Amex stehen. Sylt ist inzwischen für alle da, und das auch schon seit Langem. Die Anreise ist gar nicht das so teure, insofern mich gewundert hat, dass das 9-Euro- Ticket den Run hierher auslöste, und das bei den Punks, ausgerechnet: Was ist denn aus denen geworden? In meiner Sympathie war ich davon ausgegangen, dass der rechtschaffene Herzenspunk gar nicht weiss, was das ist: Ein Bahnticket? Darüber hätte ich gerne geredet mit ihnen, zum Beispiel. Und dann auch darüber, wie das gemeint ist, was auf einem ihrem Pappschildchen zu lesen war, ich habe es gesehen, als ich die Bilder der Räumung in der Tagesschau sah, schwarz auf einem weissen Pappschildchen stand da: Luxus für alle! Luxus? Für alle? Also für alle und jeden eine kleine Suite im altehrwürdigen Hotel Miramar an der Westerländer Strandpromenade? Und für alle und jeden Frei-Champagner in allen Bars von List bis Hörnum? Und den etwas teureren Jogging fürs Frühstück in Kampen gratis obendrauf? Im Gegenzug, quasi als Dank für neue Perspektiven, hätte ich ihnen gezeigt, wo es das Seelachsbrötchen günstiger gibt, nicht weniger frisch, nur etwas günstiger, weil nicht Gosch darauf steht; und wo es den günstigeren Grauburgunder gibt, das hätte ich ihnen auch verraten. Gegenüber vom Miramar, nur einmal schnell über die Strasse, gibt es seit ein paar Jahren ein „Café Extrablatt“, und du musst eigentlich nur überlegen, ob du für Nullzwo 12 Euro bezahlen willst oder eben Vierfuffzich; und ob du dafür abends noch mal vor die Tür gehst; im Vorherbst manchmal schon ungemütlich. Und eines solltest du in jedem Fall bei deiner Entscheidung bedenken: Ist es nicht die schönere Perspektive, vom Café Extrablatt aufs Miramar zu schauen, als im Miramar zu sitzen mit Blick aufs Café Extrablatt? Der Blickwinkel eben, es ist mal wieder der Blickwinkel, der entscheidend ist. Auch irgendwie ein Luxus, finde ich, der veränderbare Blickwinkel: Luxus für alle.
Fabian Lau ist Krankenpfleger, freier Autor und Musiker, also nicht sehr reich, vielleicht aber, je nach Blickwinkel, schön. Er lebt in Malchen.
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