
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
So also klingt Luft. Es ist ein leichtes Sirren und Trillern, vielleicht auch ein Pfeifen und Tropfen. Aber mancher Leser wird da widersprechen, wenn er die Ausstellung besucht hat. Denn jeder nimmt Töne anders wahr. Junge Menschen hören die hohen Töne viel besser, ältere Menschen haben damit ihre Probleme. Und die Luft oder Bestandteile von ihr hat wohl noch niemand gehört, vor allem die winzigen, aber umso gefährlicheren Feinstaubpartikel. Rund 4,2 Millionen Tote pro Jahr führt die Weltgesundheitsorganisation WHO auf die Folgen von Luftverschmutzung zurück.
Tomás Saraceno verleiht der Luft eine klare, wenn auch keine anklagende Stimme; derzeit bestimmen ja ohnehin Aerosole unser Leben. Aber den argentinischen Künstler, Jahrgang 1973, interessiert nicht nur die Luft, die keine Landesgrenzen kennt, niemandem gehört und von allen genutzt werden kann. Er arbeitet auch mit Spinnen und ihren Netzen, die er zu Ballons für neue Lebensräume des Menschen umbaut. Und er will nur mithilfe der Sonne fliegen, ohne fossile Brennstoffe.
Damit bewegt sich Saraceno an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft, er ist also genau richtig im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, einem der größten Universalmuseen der Welt. „Songs for the air” nennt Saraceno seine Schau, die natürlich nichts zum Mitsingen bietet. Vielmehr verweist sie auf einige Lebewesen, mit denen wir uns den Planeten teilen, aber kaum beachten. So tritt Saraceno in Darmstadt in riesige Fußstapfen, ist doch dort der weltweit größte Werkkomplex von Joseph Beuys beheimatet.
Der 1986 verstorbene Beuys arbeitete viel mit der Natur und mit Materialien, die Energie speichern oder abgeben. Die Saraceno-Schau ist ein kluger Schachzug des seit zwei Jahren amtierenden Museumsdirektor Martin Faass, der so eine Brücke zu Beuys schlägt. Heute kommt man mit Videos allein dem einst fast guruhaft verehrten Mann aus dem Rheinland nicht mehr nahe; längst spielt Beuys keine große Rolle mehr.
Jetzt hat Tomás Saraceno den großen Ausstellungssaal mit seinen 450 Quadratmetern in ein Laboratorium verwandelt. Zusammen mit Forschern der Technischen Universität Darmstadt hat er einen Laser entwickelt, der neben 3-D-Scans auch digitale Rekonstruktionen von Spinnennetzen ermöglicht. Die sind nun als rot glühendes Gespinst zu sehen, das sich fein verästelt, an manchen Stellen aber auch abbricht, um woanders weiter zu wachsen. Ein Kunstwerk der Natur, das Tomás Saraceno schon seit langer Zeit aufmerksam verfolgt, wie er im Gespräch sagt.
Denn Spinnen ziehen mit ihren Fäden nicht nur eine Art Haus, das Netz ist auch fast so etwas wie ein Musikinstument. Durch das Berühren werden Vibrationen und Wellen geschlagen, die als Nachrichten gelesen werden können. So gaukelt eine Spinne mit bestimmten Wellen einer anderen Spinne vor, dass sie nur eine Ameise sei – wenn sie nah genug ist, wird sie von der ersten Spinne gepackt und gefressen. Eine faszinierende Welt tut sich also in dieser Ausstellung auf.
Dabei hat Saraceno in Argentinien zuerst Architektur studiert, dann bildende Kunst. Sein Kunststudium hat er 2001 bis 2003 an der Frankfurter Städelschule beendet; heute ist Saraceno einer der bekanntesten Absolventen der kleinen Kunstakademie. Schnell machte er sich einen Namen mit seinen „Wolkenstädten“ in Museen, die fliegenden Bauten ähnelten, aber als Behausung für die wachsende Bevölkerung dienen sollten. Anfangs wirkte das als Kunst-Erlebnispark, wenn sich ein Besucher auf dem riesigen Luftkissen bewegte und der zweite Besucher das rasch ausbalancieren musste.
Aber dieses Spiel hatte einen tieferen Sinn, zeigte es doch, dass jeder vom anderen abhängig ist und nicht allein agieren kann. So gibt Saraceno auch in Darmstadt dem Besucher etwas mit auf dem Weg nach Hause. Er verweist nämlich auf seine zwei Apps, mit denen wir uns direkt mit der Welt verbinden können. Die „Arachnomancy App“ etwa ist eine spezielle Wetter-App, die uns verlässliche Vorhersagen bieten soll, wenn wir gelernt haben, Spinnen zu beobachten und ihre Bewegungen richtig zu deuten. So sieht Saraceno das Spinnennetz als „Idee eines Netzes des Lebens, das Menschen und andere Lebewesen wieder miteinander verbindet“.
Christian Huther
Bis 31. Januar 2021
Friedensplatz 1
Tel.: 06151 16 57 000
www.hlmd.de
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